Archiv für den Monat Februar 2017

Angenommen…

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Vor zwei Wochen habe ich einen Anruf bekommen. Die Mutter von Jonathans Schulkamerad war am Telefon. Es fing alles ganz harmlos und nett an, mit ein bisschen Small Talk und einem kleinen Kompliment. Dann nahm das Gespräch aber eine sehr überraschende und unschöne Wende: Die Mutter von Paul (Name habe ich geändert) erklärte mir, dass ihr Sohn nicht mehr mit meinem Sohn befreundet sein möchte und dass er deshalb auch die Einladung zu Jonathans Geburtstagsparty nicht annimmt. Bäääng- das hat gesessen. Obwohl ich mir einbilde, dass ich gelernt habe, meine Gefühle einigermaßen in Griff zu haben (jedenfalls nach außen J) traf mich dieser Schlag komplett unvorbereitet und mitten ins Schwarze: Ich konnte absolut nix dagegen machen, dass ich losheulen musste- und zwar richtig. Es dauerte einige Minuten, bis ich wieder vollständig meine Fassung gefunden hatte und das Gespräch beenden konnte. Die Frau am anderen Ende schien etwas irritiert zu sein, was mich aber in diesem Moment überhaupt nicht interessiert hat. Für mich war gerade eine Welt zusammengebrochen, da konnte ich mich unmöglich darum kümmern, was Pauls Mutter von mir dachte.

Diese Mutter hat- ohne es zu wissen- meinen wunden Punkt getroffen, meine größte Sorge und meinen tiefsten Schmerz aufgewühlt. Der hängt damit zusammen, dass mein Sohn das Asperger Syndrom hat.  Die Menschen, die betroffen sind, sind normal oder überdurchschnittlich intelligent, haben aber eine andere Wahrnehmung von der Welt als wir und haben große Schwierigkeiten, sich auf Gefühle und Gedanken anderer Menschen einzulassen. Deswegen wirkt ihre Kommunikation auf andere oft etwas bizarr. Sie sprechen unvermittelt Gedanken aus, die nicht in den Zusammenhang passen, können lange Ausführungen zu einem Thema machen, das sie selbst fasziniert, andere aber unter Umständen langweilt. Und es fällt  Menschen mit Asperger schwer, einen Gespsrächsfaden von anderen aufzunehmen und weiterzuspinnen. Manche Kinder, die dieses Syndrom haben, sind angeblich gerne alleine und vermissen die Gesellschaft anderer nicht besonders (das habe ich zumindest gelesen). Andere sind zwar kontaktfreudig, sind aber dennoch in ihrer Kommunikation gehandicappt.
So wie unser Sohn.
Und gerade hier sitzt der Schmerz: Es tut weh, wenn man dazugehören möchte, aber aus dem Rahmen fällt. Es tut weh, wenn man will und nicht kann. Es tut weh, wenn andere einem die Freundschaft aufkündigen und die Party absagen, weil man zu anders ist für sie. Das war nämlich in etwa so die Begründung, die mir Pauls Mutter für die Absage gegeben hat.

Ich bin Hobbypsychologin genug um zu wissen, was Ablehnung mit der eigenen Seele machen kann. Und ich leide bis in die tiefsten Tiefen mit meinem Kind, so sehr, dass mir in den letzten beiden Wochen eigentlich alles sinn- und hoffnungslos erschien: Putzen und Einkaufen (okay, das finde ich auch so oft sinnlos), Sich-Verabreden und Lernen, Zum-Hauskreis-Gehen und Liedersingen, an Gott glauben, in den Urlaubfahren und sogar Shoppen- nichts konnte mich mit unseren Umständen und der Last versöhnen, die sich im Moment des Telefonats auf mein Herz gelegt hat.

Ich war also mitten im Tal der Tränen. Und wusste auch nicht, wie ich da wieder herauskommen soll. Die Zukunftsprognosen schienen mir alle grau und verregnet (hallo, Himmel über Lübeck, das geht auch raus an Dich!).

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Zum Glück waren und sind wir im Moment dazu gezwungen, uns mit der Auswahl für die weiterführende Schule von Jonathan zu beschäftigen. Ich musste also  doch mitmachen beim Leben und konnte mich nicht in mein Schneckenhaus zurückziehen. Ich musste nachdenken über die Besonderheiten unseres Kindes und wie wir ihnen am besten gerecht werden können. Ich musste Lehrern und Rektoren und Sonderpädagogen etwas von meinem Kind erzählen. Und ich musste auch über Dinge nachdenken wie: Diagnostik, Nachteilsausgleich, Behindertenausweis und Schulbegleitung, alles so Wörter aus einer Szene, in die ich nie hineingehören wollte und die ich nun nicht länger umgehen kann.  Das alles hat etwas mit mir gemacht:
Ich beginne, zu akzeptieren.

Mein Sohn hat Asperger. Mein Sohn ist nicht wie jedes andere Kind. Mein Sohn braucht Unterstützung. Mein Sohn hat eine Behinderung, im wörtlichsten Sinne des Wortes.

Wieso in aller Welt braucht diese Muddi denn so lange, bis sie das kapiert, werdet Ihr Euch fragen. Das weiß ich selbst auch nicht. Manche Symptome sind immer da, andere nur ab und zu. An manchen Tagen sind sie sehr stark ausgeprägt. An anderen fallen sie fast gar nicht auf. Es gibt Situationen, die das autistische Verhalten verstärken. Es gibt Situationen und Umstände, die es abmildern. Es gibt, wie bei jedem von uns, gute und schlechte Tage. Und es gibt die Hoffnung, dass Gott auf den Plan tritt und den ganzen Spuk beendet. Deswegen habe ich mir wahrscheinlich lange die Welt schön geredet und so getan, als ob doch eigentlich alles nur halb so wild wäre. Je jünger die Kinder sind, desto mehr kann man ja auch noch steuern, eingreifen, behüten, abfangen. Bis dann irgendwann ein blöder Telefonanruf kommt und einen wachrüttelt, auf schmerzhafte und unliebsame und unmissverständliche Weise…

Was ausgesehen hat wie das Ende der Welt (und sich auch manchmal noch so anfühlt), bringt doch trotz aller Härte etwas Schönes zum Vorschein: Mein Herz hat sich neu geöffnet für meinen Sohn. Er darf so sein wie er ist. Er muss nicht um jeden Preis normal sein. Er muss sich nicht über Nacht in ein Kommunikationswunder verwandeln (wenn Du das aber gerne machen möchtest, Jesus, dann bitte, nur zu ;.)). Er darf genau so sein und bleiben wie er ist. Er darf gute und schelchte Tage haben. Er darf Dinge sagen, die ich schräg finde. Er darf Fehler machen. Er darf sich benehmen, wie sich ein Junge benimmt, der Asperger hat. Ich habe neu entdeckt, wie unbeschreiblich ich ihn liebe. Während ich das schreibe, kommen mir die Tränen: Ich liebe seine Fantasie und Begeisterungsfähigkeit. Ich liebe seinen Humor und sein unbändiges Lachen, wenn er etwas witzig findet. Ich liebe seine Kreativität und seine Ideen, die sich manchmal überschlagen können. Ich liebe seine Treue und Loyalität, sein großes Herz und seine ungewöhnlichen Liebeserklärungen. Ich liebe es, wenn ich seine ganze Aufmerksamkeit habe und er mir in die Augen schaut. Ich liebe es, wenn er lächelt. Ich liebe ihn so wie er ist.

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